Helmuth Feilke (2019)
Bildungssprache
⦁ Definition
Für den Versuch einer Begriffsbestimmung von Bildungssprache ist es sinnvoll, zunächst bei den Funktionen und erst nachgeordnet bei den sprachlichen Strukturen anzusetzen. Wichtige Stichworte für die Definition sind: Handlungsbezug, Schriftlichkeitsbezug und Dekontextualisierung, Reflexivität, kognitive Funktionalität, soziokulturelle Funktion, bildungssprachliche Praktiken. Nach außen kann die Bildungssprache von den verwandten Konzepten Schulsprache und Fachsprache abgegrenzt werden.
Im Kern bezieht sich das Konzept der Bildungssprache auf die sprachlichen Formate und Prozeduren, die für Texthandlungen wie Beschreiben, Vergleichen, Erklären, Analysieren, Erörtern usw. gebraucht werden. Dies sind Handlungen, die in Lernzusammenhängen, gleich ob mündlich oder schriftlich, eine zentrale Rolle spielen.
Für Bildungsprozesse und das Lernen elementar ist die Entbindung von Beobachtung und Erfahrung aus den jeweiligen situativen Bezügen und die Fähigkeit zu einer verallgemeinernden Formulierung und Darstellung von Wissen und Erkenntnis. Pragmatisch geht es damit um die Funktion sprachlicher Dekontextualisierung, die durch distanzsprachliche Formate und Strukturen der Bildungssprache gestützt wird (Koch & Oesterreicher, 2007). Bildungssprachliche Kompetenzen sind deshalb wesentlich durch ihren Bezug auf konzeptionelle Schriftlichkeit bestimmt (Feilke, 2012).
Auch wenn Handlungen wie Beschreiben, Vergleichen, Erklären stets kommunikativ eingebettet sind, sie sind zugleich sprachlich gebundene kognitive Lernoperationen, die als diskursive Funktionen bevorzugt im Umgang mit Texten erworben werden (Vollmer & Thürmann, 2010). Hier ergibt sich ein enger Bezug zu den sogenannten Operatoren, die gleichfalls stark metatextuell-reflexive sprachbezogene Lernhandlungen fassen (Feilke & Rezat, 2019).
Definitorisch wichtig ist auch die soziale Funktion der Bildungssprache. Sie wird einerseits bestimmt als Sprache der Öffentlichkeit zum Beispiel in den Medien, die eine Brücke schlägt zwischen wissenschaftlichem Wissen und alltäglichem Sprachgebrauch und insofern eine emanzipatorische Funktion hat. Andererseits wird die Bildungssprache als kulturelles Kapital aufgefasst, das in der familialen Sozialisation vererbt wird und von dem bildungsferne Schichten ausgeschlossen sind. Hier ist dann auch die Rede von der Bildungssprache als Geheimsprache der Bildungsinstitutionen und als Visitenkarte für den Schulerfolg und den Eintritt in bildungsnahe exklusive soziale Schichten. Während die Bildungssprache zunächst in Analogie zu Wissenschaftssprache und Fachsprachen vor allem linguistisch im Blick auf Wortschatz, Syntax und Textstrukturen untersucht wurde, betonen jüngere Definitionsversuche den Zusammenhang dieser sprachlichen Mittel mit den für den kompetenten Gebrauch notwendigen kulturellen Handlungsschemata und sozialen Praktiken (Morek & Heller, 2012).
⦁ Diskurs
Im Blick auf den gegenwärtigen Diskurs zur Bildungssprache lassen sich drei wichtige Etappen der Debatte unterscheiden. Das ist zum einen die Diskussion zu den sogenannten Sprachbarrieren in den 1960er und 1970er Jahren, in der nach der Hypothese Basil Bernsteins der sogenannte elaborierte Code der bürgerlichen Mittelschichten Kinder aus diesen Familien gegenüber Sprecher(inne)n des restringierten Code in Arbeiterschichten schulisch bevorteilte. Diese schichtenbezogene Diskussion wurde in den 1980er Jahren dann durch eine Diskussion zum Zweitspracherwerb abgelöst, in der der kanadische Mehrsprachigkeitsforscher Jim Cummins zwischen zwei Sprachkompetenzen unterschied, den BICS (Basic Interpersonal Communicative Skills) und der CALP (Cognitive Academic Language Proficiency). Während im Zweitspracherwerb die in alltäglicher mündlicher Interaktion erworbenen Sprachfähigkeiten (BICS) unkritisch sind, erweist sich die schulspezifische, in hohem Maß an Schrifterfahrung gebundene CALP als für den Schulerfolg kritische Größe. Hier spielte dann auch bildungspolitisch die sogenannte Schwellen- und Interdependenzhypothese Cummins eine wichtige Rolle, nach der Lernende, die in ihrer Erstsprache den Schrifterwerb absolviert haben, damit die Schwelle zu einem erfolgreichen Erwerb der Zweitsprache leichter überschreiten. Daraus wurde bildungspolitisch die Forderung nachbilingualer Förderung und herkunftssprachlichem Unterricht parallel zum zielsprachlichen Unterricht abgeleitet. Für nachhaltig positive Wirkungen des herkunftssprachlichen Unterrichts auf den Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen in der Zielsprache gibt es jedoch empirisch keine klare Evidenz. Insbesondere nach der PISA-Studie von 2001, die deutliche Hinweise auf Defizite von Zweitsprachlernenden im Bereich der bildungssprachlichen Kompetenzen ergeben hatte, wurde dann die Instruktion zu Merkmalen der Bildungssprache und die Förderung bildungssprachlicher Kompetenzen in der Zweitsprache zu einem bildungspolitisch vorrangigen Ziel. Dabei gab die empirische Forschung schon früh deutliche Hinweise darauf, dass nicht der Unterschied zwischen Erstsprachlernenden und Zweitsprachlernenden für den Schulerfolg ausschlaggebend ist, sondern die frühe Schrifterfahrung und die Förderung von Sprachbewusstheit möglichst schon im Kindergartenalter.
Auch in linguistischer Hinsicht durchlief der Diskurs zur Bildungssprache mehrere Etappen. Insbesondere im Blick auf das sprachliche Fachlernen haben zunächst Wortschatzfragen und der Erwerb von Fachbegriffen die Diskussion lange Zeit dominiert (vgl. Härtig et al., 2015). Der Bildungswortschatz gerade für den sprachsensiblen Fachunterricht ist bis heute ein wichtiges Thema der Diskussion. Hier geht es um fachlich komplexe Konzepte wie Strecke, Körper, Kraft oder Stoff, bei denen Fachsprache und Alltagssprache häufig auseinanderfallen. Es geht aber auch um grundlegende Sprachmittel wie bildungssprachlich relevante Verben (definieren, zusammenfassen, erklären etc.) oder Konnektoren und Adverbien wie deshalb, darum, damit, somit etc. Die Schwierigkeit beim bildungssprachlichen Wortschatzlernen ist in allen Fällen nicht der Erwerb dieser Wörter, sondern die Kenntnis der Bedingungen für ihren adäquaten Gebrauch.
Im Diskurs hat sich aus diesem Grund eine Verlagerung der Aufmerksamkeit der Forschung zur Bildungssprache auf die Einbettung von Wortschatz und Grammatik in textpragmatische Zusammenhänge zunehmend durchgesetzt. Die Grammatik der Bildungssprache wird im Zusammenhang mit bildungssprachlichen Praktiken thematisiert und didaktisch behandelt. Explizitmachen, Verdichten, Verallgemeinern und Diskutieren sind wichtige textpragmatische Funktionen bildungssprachlicher Grammatik.

Abb.1: Bildungssprachliche Funktionen und grammatische Formen (vgl. Feilke 2012)
Das stützt auch ein didaktisches Scaffolding des Erwerbs: Komplexe Nominalphrasen mit komplexen Attributen z. B. wie „die ins Gleichgewicht gebrachten Körper“ können in Sätze verwandelt und auf diese Weise semantisch durchsichtig werden. Hier kann auch die Forschung zur Verständlichkeit von Lehrwerken und Aufgabenformulierungen wichtiges beitragen. Als Fortschritt kann die Hinwendung auf die Erforschung der Voraussetzungen für den Erwerb komplexer bildungssprachlicher Handlungen (z. B. Erklären, Argumentieren) gewertet werden (Redder & Weinert, 2013). Die Forschungen belegen, dass sprachliche Fähigkeiten, die die Schule bis heute in allen Fächern für ihren Unterricht voraussetzt, bei einem Großteil der Schüler(innen) auch nach Abschluss der Grundschulzeit und nach dem Einstieg in ein zunehmend fachlich bestimmtes Lernen nicht in hinreichendem Maß erworben sind.
Die Sicherstellung der Voraussetzungen für einen erfolgreichen Erwerb kann nicht durch sprachsensibles Fachlernen alleine erfolgen. Ein zentrales Konzept der aktuellen Diskussion ist deshalb neben der Sprachförderung im Kindergartenalter eine schulstufen- und jahrgangsübergreifende durchgängige Sprachbildung (Gogolin & Lange 2011), die nur als Gesamtaufgabe der Schulentwicklung realisierbar erscheint. Für die Überprüfung der Wirksamkeit didaktischer Interventionen und Sprachfördermaßnahmen ist eine kontinuierliche empirische unterrichtsvergleichende Forschung notwendig.
Literatur
Feilke, H. (2012). Bildungssprachliche Kompetenzen – fördern und entwickeln. Basisartikel. Praxis Deutsch 233, S. 4–13.
Feilke, H. & Rezat, S. (2019). Operatoren ‚to go‘. Basisartikel. Praxis Deutsch 274, S. 4–13.
Gogolin, I. & Lange, I. (2011). Bildungssprache und durchgängige Sprachbildung. InS. Fürstenau & M. Gomolla (Hrsg.), Migration und schulischer Wandel (S. 107–129). Wiesbaden: Springer VS.
Härtig, H., Bernholt, S., Prechtl, H. & Retelsdorf, J. (2015). Unterrichtssprache im Fachunterricht – Stand der Forschung und Forschungsperspektiven am Beispiel des Textverständnisses. ZfDN DOI 10.1007/s40573-015-0027-7 (22.03.2015).
Koch, P. & Oesterreicher, W. (2007). Schriftlichkeit und kommunikative Distanz.
Zeitschrift für germanistische Linguistik 35.3., S. 346–375.
Morek, M. & Heller, V. (2012). Bildungssprache – Kommunikative, epistemische, soziale und interaktive Aspekte ihres Gebrauchs. Zeitschrift für Angewandte Linguistik 57 (1), S. 67–101.
Redder, A. & Weinert, S. (Hrsg.) (2013). Sprachförderung und Sprachdiagnostik. München: Waxmann.
Vollmer, H. J. & Thürmann, E. (2010). Zur Sprachlichkeit des Fachlernens. In B. Ahrenholz (Hrsg.), Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache (S. 107–132). Tübingen: Narr.



