Hanspeter Ortner (2019)
1. Begriff Bildungssprache
1.1. Lexik: teilsprachlich und/oder stilistisch markierte lexikalische Einheiten, die weder zur Alltagssprache, Gemein- oder Umgangssprache gehören noch zu den Regional- oder Fach-/Wissenschaftssprachen: z.B. apodiktisch, kompatibel, eruieren, insinuieren; Stigma, Paradigma und Wendungen wie ab ovo oder in medias res(Augst, 2016), Das also war des Pudels Kern (Goethe).
1.2. Sprachdidaktik: Gesamtheit aller sprachlichen Mittel, die das Medium konstituieren, in dem besondereInhalte nach besonderen Standards erschlossen, angeeignet, entwickelt und behandelt werden; besondere Inhalte – wie sie in der Alltagskommunikation (so) nicht vorkommen –; Bildungssprache als Performanzphänomen. Starke Fokussierung auf Probleme von Lerner(inne)n beim Ausbau ihrer Sprachkompetenz, etwa auf lexikalische Ausdrücke, deren Nicht-Beherrschung sich z.B. im Gebrauch fehlerhafter Prädikate manifestiert: Bildungssprache setzt eine gewisse Bildung als Voraussetzung. Diese Bildung wird grundsätzlich in der Schule oder durch die Schule geprägt, (Klausur, Studentin).
1.3. Interkulturalität, Sprachen-Soziologie/Sprachgeschichte: Nationalsprache, in der die (höhere) Schulbildung vermittelt wird, z.B. Französisch als Bildungs- und Amtssprache in der Demokratischen Republik Kongo. Zur Beschreibung der Merkmale dieser Bedeutungsvariante von Bildungssprache kann man den bedeutungserweiterten Begriff Abstandssprache von Heinz Kloss verwenden. Je nach Verwandtschaftsverhältnis sind die Abstände zwischen autochthonen National- bzw. Regionalsprachen klein oder groß, z.B. wenn es sich um nicht agglutinierende oder flektierende bzw. „nur“ um artikellose Sprachen handelt.
2. Aus der Forschungsdiskussion
Bildungssprache unter dem Gesichtspunkt der Performanz umfasst die ganze Sprache und die damit und dabei konstituierten Situationen sowie die Sprecher(innen)/Schreiber(innen)persönlichkeit. Alle Merkmale der Bildungssprache resultieren aus den normativen Ansprüchen an die Art der Themenbehandlung, also an das, was die Disziplin des schriftlichen Ausdrucks/der konzeptionellen Schriftlichkeit verlangt: Breite, Differenzierung, Dichte, Tiefe. Dementsprechend gibt es nicht eine Qualifikation „Beherrschung der Bildungssprache“, sondern graduell messbare Qualifikationen auf allen Ebenen der Sprachbeschreibung sowie der Äußerungs- bzw. Textbewertung: von der Aussprache über die (Text-)Präsentation und die (Recht-)Schreibung bis zu den Textsorten und komplexen Sprachhandlungen der konzeptionellen Schriftlichkeit (ARGUMENTATION, STELLUNG NEHMEN). Als bildungssprachlich markiert kann alles gelten, was nicht zu den sprachlichen Alltagsroutinen und zum „normalen“ grundschulischen Lernpensum gehört, z.B. die Behandlung von umfangreichen Aufzählungen nach dem Doppelpunkt, Verwendung des Spiegelstrichs, Zeilenschreibung (Groß- oder Kleinschreibung nach Spiegelstrich bzw. bullet points – Zeilenabschlüsse mit Komma, Strichpunkt oder ohne Satzzeichen,letzte Aufzählungszeile mit Punkt abschließen). Im Allgemeinen wird innerhalb der Qualifikati onsbereiche (z.B. Satzzeichensetzung oder gar Doppelpunktsetzung) zwischen drei bis fünf Niveaustufen unterschieden (Niveau I: Punkt am Satzschluss, Doppelpunkt vor Aufzählungen; Niveau II: elementares Niveau, noch nicht bildungssprachlich; Niveau III: Spiegelstrichschreibung, bildungssprachlich; Niveau V: Handling der Satzzeichensetzung in zitierten Texten z.B. aus dem Französischen mit Spatium vor und nach dem Doppelpunkt).
Der performative Ansatz ist holistisch und elementaristisch. Er konzipiert die Bildungssprache von der Funktion her – als eine Kompetenz innerhalb oder neben, aber in Interaktion mit einer anderen Kompetenz: innerhalb der Alltagssprache und/oder neben der Alltagssprache sowie der Erstsprache usw. Holistisch ist er insofern, als Sprachhandlungen (ERZÄHLEN) und Äußerungs-/Textsorten (Erzählung/Geschichte) seine zentralen Lern- und Produktionsformate sind. Es sind Form-Formate mit starker normativer Auswirkung auf das sprachliche Verhalten, auf das z.B., was wie und mit welchen Mitteln zu sagen ist, damit das Gesagte/Geschriebene zu einer Erzählung wird. Die Entwicklung der Erzählung von Niveau I (aneinanderreihendes Aufzählen von Einzelheiten) zu Niveau IV (narrativdurchkomponierte, teilthemenkohärente Erzählung, vgl. Wolf, 2000) zeigt, inwiefern die pragmatischglobalen Qualifikationen Vertikal- und Querschnittsmaterien sind. Sie entwickeln sich „vertikal“ durch Ausbau top down und bottom up (über Einzelelemente in allen Qualifikationsbereichen) und „horizontal“ durch das Zusammenspiel dieser Einzelelemente miteinander und in Interaktion mit den nicht speziell bildungssprachlichen Elementen – unter der Dominanz des GlobalVertikalen (top down).
Der performative Ansatz ist ferner semiotisch und einzelsprachensemantisch. Semiotisch ist er, weil der Sinn, also – grosso modo – die InhaltProduktion einerseits und der Inhalt des Gesagten/Geschriebenen als Produkt andererseits das Wichtigste und der Ausgangspunkt aller Spracharbeit sind. Die Semiotik ist für die Sinnerzeugung zuständig, die Semantik thematisiert die Umsetzung von Sinn in einzelsprachliche Bedeutung: […] ihr ‚sage niemand, was Armut ist’, schließlich habe sie als Kind monatelang ‚für Holzbuntstifte’ gewartet (Welt am Sonntag, 28.10.2018, 4). Semiotisch ist klar, was die Sprecherin, Zweitsprachlerin, sagen will: Sie/ihre Familie musste oft monatelang sparen, bis sie das Geld für Holzbuntstifte (für die Schule) beisammen hatte.
Die Unterscheidung zwischen semiotisch und semantisch ist auch für die Analyse bildungssprachlicher Fehler von Muttersprachler(inne)n aufschlussreich. Denn so mancher Satz so mancher Lernenden ist zwar semiotisch, d.h. vom Sinn her verständlich, aber semantisch nicht korrekt „umgesetzt“ (wobei alles semantisch ist, was die Äußerungs-/Textoberfläche betrifft). Ein beliebiges Fehlerbeispiel, in dem es um den Zusammenhang zwischen Schreibentwicklung und Dauer der Planung vor dem Beginn des Schreibens geht: Je höher das Stadium ist, desto höher ist auch die Zeit der Planung (manchmal benötigt die Planzeit 2/3 der Schreibzeit). (Klausur, Studentin ca. 20 Jahre alt). Eine Satzkonstruktion, die semiotisch richtig ist, aber semantisch ziemlich falsch. Rechengang richtig, zahlreiche Rechenfehler! hätte es unter einer Mathematikklausur geheißen. Dem entspräche die Kommentierung: Gedanke(n) richtig, zahlreiche Ausdrucksfehler.
Aus dem Spannungsverhältnis zwischen Semiotik, d.h. der Ebene, auf der die Botschaft und der Sinn entstehen und bearbeitet werden, und der Einzelsprachensemantik erklären sich die vielen, zahlenmäßig zunehmenden Fehler im Bereich der Bildungssprache bei Erwachsenen. Während z.B. bei Kindern der Fehlertyp „Verb + fehlerhafte Präpositionalergänzung“ selten ist (das Buch handelt über), wird er zum „häufigsten Grammatikfehler im professionellen schriftlichen Deutsch „[…:]Wir sind über jeden Hinweis dankbar; Vorräte für Öl und Benzin; ruft die Länder um Unterstützung auf“ (Zimmer, 2005).
Das Spannungsverhältnis „Semiotik – Semantik“ wird noch verschärft, wenn eine zusätzliche Einzelsprachensemantik dazukommt. Es entstehen Interferenzen: einen Antrag ausschlafen statt überschlafen.
Literatur
Augst, G. (2016). Bildungswortschatz: Bestimmung – Verwendung – Funktion. Muttersprache, 1, 1–10.
Augst, G. (2019). Der Bildungswortschatz. Darstellung und Wörterverzeichnis. Hildesheim: Olms.
Ortner, H. (2009). Rhetorischstilistische Eigenschaften der Bildungssprache. In U. Fix,A. Gardt & J. Knape (Hrsg.), Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. (HSK 31,2). (S. 2227–2240). Berlin: De Gruyter.
Wolf, D. (2000). Modellbildung im Forschungsbereich „sprachliche Sozialisation“: zur Systematik des Erwerbs narrativer, begrifflicher und literaler Fähigkeiten.Frankfurt a. M. & Wien: Lang.
Zimmer, D.E. (2005). Sprache in Zeiten ihrer Unverbesserlichkeit. Hamburg: Hoffmann und Campe.



