Helmuth Feilke (2019)
Schulsprache
1.Definition
Der Ausdruck Schulsprache verweist in der Fachdidaktik, Pädagogik und Linguistik auf wenigstens drei unterschiedliche Begriffsbedeutungen:
Von Schulsprache wird erstens gesprochen, wenn in mehrsprachigen Kontexten die in der Schule als Unterrichtssprache gebrauchte(n) Einzelsprache(n) gemeint sind. Sie können sich etwa von der zuhause gesprochenen Sprache (Familiensprache) ebenso unterscheiden, wie von in rituellreligiösen Kontexten gebrauchten Sprachen. Linguistisch handelt es sich um die standardsprachliche Varietät der als Unterrichtssprache gebrauchten Einzelsprache(n). Politisch ist dies in der Regel auch die bzw. eine der Amtssprache(n) des jeweiligen Staates. Es ist üblicherweise gesetzlich geregelt, in welcher Sprache unterrichtet wird. Unter diesem Aspekt handelt es sich bei der Schulsprache um eine primär sprachpolitisch festgelegte Größe, die für die Verteilung von Bildungschancen in einer mehrsprachigen Gesellschaft eine elementare Rolle spielt.
In einer davon klar zu unterscheidenden zweiten Begriffsbedeutung wird Schulsprache vor allem im englischen Sprachbereich als „academic language“, „schooled language“ oder „language of schooling“ (Schleppegrell, 2004) verstanden. Gemeint sind hier für Bildungsprozesse typische Sprachfunktionen und Sprachformen (Vollmer& Thürmann,2010), die durch Bezüge auf die Schriftsprache, epistemische Sprachfunktionen, Sprachbewusstheit und Distanzsprachlichkeit auch im mündlichen Gebrauch bestimmt sind. Hier ist „Schulsprache“ weitgehend bedeutungsgleich mit dem im deutschen Sprachbereich etablierten Begriff der Bildungssprache. Er wird soziolinguistisch als „Register“ verstanden, das heißt, als eine durch den situativen Gebrauchskontext „Bildung“ bestimmte Sprachform.
Während der bildungssprachliche Code linguistisch gesehen sehr viele Formen und Funktionen umfasst, die zwar für Schule und Lernen bedeutsam, aber keineswegs schulspezifisch sind (z.B. Schriftsprachbezug, Distanzsprachlichkeit, Dekontextualisierung), wird Schulsprache in der dritten Begriffsbedeutungin dichtem Bezug auf die Aufgaben der Schule und hier insbesondere mit Blick auf didaktische, erwerbsstützende Funktionen bestimmt. Schulsprache in diesem engeren Sinn wird definiert als die Gesamtheit der sprachbezogenen Praktiken, Maximen, Erwartungen, Inhalte und Formen, die für Zwecke des sprachbezogenen Fachlernens und der unterrichtlichen Kompetenzentwicklung didaktisch konstruiert und großenteils curricular verbindlich gemacht werden (Feilke,2012).
2. Diskurs
Wichtige Stichworte sind: Didaktische Gattungen/Genres, Artefaktcharakter der Schulsprache, Transitorische Normen, ScaffoldingFunktion.
Didaktische Gattungen: Sie weisen als textdidaktische, aber auch als gesprächsdidaktische Gattungen jeweils starke fachspezifischeAusprägungen auf. Dies gilt z.B. für die Inhaltsangabe im Deutschunterricht, das Versuchsprotokoll im Biologieunterricht oder die Quellenanalyse im Geschichtsunterricht, und es gilt für die Schule wie für das Studium, wo etwa Seminararbeit, Protokoll oder Portfolio als textdidaktische Gattungen etabliert sind. Die Gattungen binden jeweils den fachlichen Lernerfolg an spezifische sprachbezogene Erwartungen zum angemessenen Handeln der Schüler(innen) und Studierenden.
Der Artefaktcharakter zeigt sich in Sprachgebrauchsformen und erwartungen, die so nur schulisch vorkommen. Es sind sprachliche Lern-und Übungsformen. Dies gilt für didaktische Gattungen (z.B. Rechtschreibdiktat, Bildergeschichte), aber auch für sprachbezogene Maximen, so etwa die schulsprachliche Explizitformenerwartung.Hierzu zählt z.B. grammatisch die fächerübergreifend verbreitete Erwartung, Antworten bzw. Lösungen jeweils möglichst in syntaktisch expliziter Form und in „ganzen“ Sätzen zu geben. An der Explizitformenerwartung, die neben der Syntax auch die Phonologie, die Lexik und die Textebene betrifft, wird exemplarisch der didaktische Artefaktcharakter schulsprachlicher Erwartungen und Formen (Rezat,2014)deutlich. Empirisch spielt außerhalb der Schule die Erwartung, sich in Form „ganzer“ Sätze zu äußern, keine Rolle. Gleichwohl stützt die Schule entsprechende Praktiken: Die sprachliche Explizitformenerwartung soll die Fähigkeit zur inhaltlichen Explizierung der dargestellten Sachverhalte und damit auch das fachliche Lernen fördern. Instruktiv im Blick auf den Artefaktcharakter ist auch ein weiteres Beispiel: Das Lesen-und Schreibenlernen geschieht mit Hilfe sogenannter Ausgangsschriften: Grundschrift, Schulschrift, Lateinische Ausgangschrift, Vereinfachte Ausgangsschrift. Diese Schriften sind hochgradig artifiziell und didaktisch konstruiert. Sie dienen dazu, das Schreiben und Lesen zu lernen. Deshalb werden sie schrifttheoretisch auch unterschieden von sogenannten Verkehrsschriften und der jeweils auszubildenden individuellen Handschrift. Die Entwicklung der Schriftkompetenz zeigt sich dann im Rückbau der Ausgangsschrift und im Ausbau der eigenen Handschrift.
Das Beispiel machtzudem deutlich, dass sehr viele schulsprachliche Erwartungen und Formen durchdas Merkmal der Transitorik bestimmt sind (Feilke,2015). Das heißt, sie sind für den Erwerb relevant, verlieren aber ihre Bedeutung, wenn der Erwerb erfolgreich ist. Auch dies zeigt sich exemplarisch an textdidaktischen Gattungen wie etwa der Erörterung oder Bildergeschichtenerzählungen im Deutschunterricht. Schulsprachliche Erwartungen und Formen sind keine Zielformen der Kompetenz, sie sind vielmehr sprachliche Lernformen für die Ausbildung von Kompetenzen. Im pädagogischen Sinn haben sie eine sogenannte Scaffolding-Funktion. Nicht die Bildergeschichtenerzählung soll also gelernt werden, sondern durchdie Bildergeschichtenerzählung soll etwas, nämlich das Erzählen, gelernt werden. Nicht die Erörterung als textdidaktische Gattung soll gelernt werden, sondern das Erörtern.
Es ist eine empirische Frage, ob die mit schulsprachlichen Formen verbundenen Kompetenzziele tatsächlich erreicht werden. Da jedes Lernen auch sprachlich stattfindet und der Lernerfolg in allen Fächern jedenfalls auch anhand sprachlicherLeistungen überprüft wird, ist es zwingend, dass Fächer schulsprachliche Textformen und sprachbezogene Erwartungen im Sinne von Stützen der Kompetenzförderung für den Unterricht entwickeln. Empirische fachdidaktische Forschung hat die Aufgabe, die Konstruktion schulsprachlicher Artefakte aktiv zu begleiten, zu beobachten und im Blick auf ihre Wirksamkeit kritisch zu analysieren und zu untersuchen. Im Fach Deutsch verdeutlichen Ergebnisse der Forschung etwa zu didaktischen Gattungen (Becker,2001;Dix,2017) eindrücklichdie Notwendigkeit kritischer Forschung zur Schulsprache.
Literatur
Becker, T.(2001).Kinder lernen erzählen. Baltmannsweiler: Schneider.
Dix, A.(2017).Berichte und Berichten als didaktische Gattung. Eine Textform zwischen Erwerb und schulischer Norm. Baltmannsweiler: Schneider.
Feilke, H. (2012).Schulsprache –Wie Schule Sprache macht. In S. Günthner,W.Imo,D. Meer & J.G. Schneider(Hrsg.),Kommunikation und Öffentlichkeit. Sprachwissenschaftliche Potentiale zwischen Empirie und Norm(S. 149–175). Berlin& Boston: De Gruyter.
Feilke, H.(2015).Transitorische Normen. Argumente zu einem didaktischen Normbegriff. Didaktik Deutsch 38, S. 115–136.
Rezat, S.(2014).Textprozeduren als Instrumente des Schreibens. InTh.Bachmann&H. Feilke (Hrsg.),Werkzeuge des Schreibens –Beiträge zu einer Didaktik der Textprozeduren(S. 177–197).Stuttgart:Klett.
Schleppegrell, M.J. (2004).The Language of Schooling. A Functional Linguistics Perspective. New York: Lawrence Erlbaum Associates.
Vollmer, H. J. & Thürmann, E. (2010). Zur Sprachlichkeit des Fachlernens. In B. Ahrenholz(Hrsg.), Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache (S. 107–132). Tübingen: Narr.



